Trauma, Sucht und Sprache: Warum „Co-Abhängigkeit“ nicht meine Wahrheit ist
Hey, DU!
Eigentlich war dieser Artikel längst geschrieben und dann las ich…
aktuell heute (8.2.2025) einen Beitrag auf Joyn.de, indem auf die Sendung „Sucht in der Familie: Bist du co-abhängig?“ hingewiesen wurde. In dieser Sendung trifft Leon Windscheid auf Model und Influencerin Betty Taube. Betty Taube ist dabei wirklich authentisch und erzählt sehr offen über ihr eigenes Aufwachsen. Was mich beim Zuschauen aber von Anfang an wirklich gestört hat, war das „Herumreiten“ auf den Begriff der Co-Abhängigkeit.
Ein Satz in der Ankündigung hat mich dabei besonders wütend gemacht: „Auch der Begriff Co-Abhängigkeit taucht immer wieder auf. Damit wird ein Zustand beschrieben, bei dem neben der suchtkranken Person noch weitere Menschen, meist Angehörige, in die Abhängigkeit verwickelt sind und durch ihr Verhalten sogar die Sucht bestärken.“
Das unterstellt, dass ich auch als Kind verantwortlich war und dass ich die Sucht bestärke. Das finde ich nicht nur unempathisch – es ist schlichtweg falsch. Kinder leiden still, halten so viel aus und müssen stark sein. Wir sagen immer wieder „Du hast keine Schuld“ zu Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Kindern, die in suchtbelasteten Familien leben. Sich so auszudrücken, weist mir eine Mitschuld zu, die niemals bestand. Die erlernten Überlebensstrategien habe ich entwickelt, weil der gefräßige Schatten „Sucht“ alles innerhalb der Familie beherrscht hat. Angehörige versuchen oft ihr Bestes, wollen natürlich helfen und unterstützen. Sie möchten dem/der Erkrankten helfen, nicht fallen lassen, und befinden sich in einem Dilemma. Für Kinder ist die Situation noch sehr viel schwieriger – sie sind gefangen und haben keine Chance, sich selbst zu befreien. Es zeigt einmal mehr, dass wir eine neue Sprache brauchen.
Das Stigma um Sucht und die Schwierigkeit, Hilfe zu finden
Suchterkrankungen sind immer noch mit einem massiven Stigma behaftet. Das führt dazu, dass viele Menschen aus Scham und Angst den Weg ins Hilfesystem nicht finden. Das große Tabu um Sucht behindert die offene Kommunikation und verhindert dringend benötigte Aufklärung. Begriffe wie „Co-Abhängigkeit“ tragen nicht zur Entstigmatisierung bei – im Gegenteil, sie können Schuldgefühle verstärken und Angehörige in ein bestimmtes Raster drängen, das weder ihre Realität noch die Komplexität der Suchtproblematik angemessen widerspiegelt.
Warum gibt es die Schublade „Co-Abhängigkeit“?
Warum gibt es eigentlich diese spezielle Schublade nur für Angehörige von suchtkranken Menschen? Es gibt doch auch keine Begriffe wie „Co-Demenz“, „Co-Krebs“ oder „Co-Alzheimer“, obwohl auch Angehörige dieser Erkrankten unter enormen Belastungen leiden. Warum wurde gerade bei Suchterkrankungen diese Zuschreibung etabliert? Liegt es an dem veralteten Gedanken, dass Sucht eine Charakterschwäche ist, dass die Betroffenen einfach nicht willensstark genug seien? Und dass Angehörige diese „Schwäche“ unbewusst unterstützen?
Oder brauchte es diese Schublade vielleicht, um Angehörigen eine eigene Kategorie zu geben – nach dem Motto: „Auch du bist nicht richtig.“ Oder noch drastischer: „Du bist auch krank, aber das bedeutet, dass du heilbar bist.“
Jeder, der im Feld der Suchterkrankungen arbeitet, hat seine ganz eigene Sicht auf diesen Begriff – und sicherlich hat jede Perspektive ihre Berechtigung. Aber für mich passt diese Schublade nicht. Sie nimmt mir meine eigene Geschichte. Sie packt mich in ein festgelegtes Konzept, das nicht zu meinem Erleben passt. Und sie lenkt vom eigentlichen Kern ab: Dass es hier um tiefgreifende Überlebensstrategien geht, die aus Not heraus entstanden sind.
Trauma in der Kindheit mit suchtkranken Eltern
Was Kinder in suchtbelasteten Familien erleben, ist kein „Mittragen“ oder „Bestärken“ einer Abhängigkeit, sondern ein tiefgreifendes Trauma. Es ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ein Kind machen kann: den eigenen Vater oder die eigene Mutter zu sehen, wie sie sich selbst durch den Konsum verändern und oft sogar zerstören. Das Gefühl, dass die Droge, der Alkohol oder die Sucht wichtiger ist als man selbst.
Es ist ein ständiger Wechsel zwischen Liebe, Wut, Ekel und Hass – ein emotionales Chaos, das das gesamte Leben prägt. Kinder verstehen nicht, warum ihr geliebter Elternteil nicht einfach aufhören kann. Sie fühlen sich übersehen, wertlos, unwichtig. Das Bedürfnis nach Liebe kollidiert mit der Wut darüber, immer wieder enttäuscht zu werden.
Diese Kinder brauchen keine Schuldzuweisung, sie brauchen Unterstützung. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen helfen zu verstehen, dass sie nicht schuld sind. Sie brauchen Begleitung, um die tiefen Wunden zu heilen, die das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie hinterlässt. Sie brauchen keine Begriffe, die ihnen Verantwortung zuschieben, sondern eine Sprache, die Mitgefühl, Schutz, Verständnis und Anerkennung vermittelt.
Medien tragen hier eine besondere Verantwortung. Sprache darf sich verändern. Berichterstattung über Suchterkrankungen und deren Auswirkungen sollte gründlich recherchiert sein und verschiedene Perspektiven einbeziehen. Das bedeutet auch, mit Expert:innen zu sprechen, mit Betroffenen in den Austausch zu gehen und zu hinterfragen, welche Begriffe wirklich hilfreich sind – und welche eher Schaden anrichten.
Warum ich den Begriff „Co-Abhängigkeit“ nicht mag
Der Begriff „Co-Abhängigkeit“ ist weit verbreitet, wenn es um die Dynamik in suchtbelasteten Familien geht. Er stammt ursprünglich aus den USA und wurde in den deutschen Sprachraum übernommen. Besonders bekannt wurde er durch Melody Beattie, die mit ihrem Buch Schluss mit der Co-Abhängigkeit einen Selbsthilfe-Klassiker geschrieben hat. Doch dieser Begriff hat eine enorme Schubladenwirkung – und ich gehöre nicht in diese Schublade.
Der Ursprung und die Problematik des Begriffs
Melody Beattie definiert Co-Abhängigkeit als eine Besessenheit davon, das Verhalten einer anderen Person zu kontrollieren. Doch wie kann ein Kind besessen davon sein, das Verhalten eines suchtkranken Elternteils zu kontrollieren? Ich konnte nichts kontrollieren – nicht die Sucht, nicht die Gewalt, nicht das Chaos, das dadurch in mein Leben kam.
Später beschreibt sie Co-Abhängige als Menschen, die nur reagieren – entweder zu stark oder zu schwach – und selten agieren. Doch auch das spiegelt meine Erfahrung nicht wider. Als Kind habe ich nicht einfach nur reagiert, ich habe überlebt. Ich habe Überlebensstrategien entwickelt, weil ich keine andere Wahl hatte. Der Begriff Co-Abhängigkeit erweckt den Eindruck, dass an mir als Betroffene kein gutes Haar bleibt. Doch ich war nicht „co-abhängig“, sondern in einer hochbelastenden Situation gefangen, aus der ich mich als Kind nicht befreien konnte.
Die Realität: Überlebensstrategien statt „Co-Abhängigkeit“
Ich bin das Kind eines suchtkranken Vaters. Ich habe nicht „mitgemacht“, sondern ich musste überleben. Ich habe Strategien entwickelt, um mich anzupassen, um mich zu schützen, um in einem chaotischen, oft unsicheren Umfeld zu bestehen. Mein Verhalten war kein bewusstes „Co-Abhängig-Sein“, sondern eine erlernte Anpassungsreaktion an ein ungesundes Umfeld.
Dieses Aufwachsen führt zu tiefgreifenden Dynamiken und Strategien, die oft selbst zu einer Suchterkrankung oder anderen psychischen Belastungen führen können. Denn wenn der Umgang mit dem erlebten Trauma nicht möglich ist, wenn wir den Schmerz unserer Seele nicht ertragen können, dann suchen wir nach Wegen, um uns zu betäuben, um zu verdrängen und nicht zu fühlen. Oder unsere Prägung wirkt wie ein innerer Antreiber, der uns in eine Depression, eine Angststörung oder in ein Burnout führt. Wenn wir keine Hilfe suchen oder finden, wenn unser Aufwachsen in eine Schublade gepackt wird, die „Co-Abhängigkeit“ heißt, dann kann das genau das verhindern, was wir so dringend brauchen: echte Heilung und die Möglichkeit, uns von der Vergangenheit zu befreien.
Ein neuer Blick auf Heilung und Wachstum
Es erfordert enormen Mut, sich diesem Schmerz zu stellen und aus alten Mustern auszubrechen. Doch genau darin liegt die größte Freiheit. Es bedeutet, sich nicht länger von der Vergangenheit bestimmen zu lassen, sondern bewusst einen neuen Weg zu wählen. Ein Weg, der nicht nur das eigene Leben transformiert, sondern auch künftige Generationen von diesen Kreisläufen befreit. Cycle Breaker zu sein heißt, Licht in das Dunkel zu bringen, alte Ketten zu sprengen und Platz für ein Leben voller Selbstbestimmung, Liebe und innerer Ruhe zu schaffen.
Doch für mich war dieser Weg nicht immer geradlinig. Ich habe verschiedene Therapieansätze und Therapeuten ausprobiert, doch eine wirklich passende Methode für COAs gab es nicht – denn es ist keine Krankheit. Was es braucht, sind einfühlsame Therapeut:innen, die ohne Vorurteile und Bewertungen mit dem Wissen um die Dynamiken in suchtbelasteten Familien arbeiten. Dieses Glück hatte ich vor 23 Jahren nicht. Nach 2,5 Jahren Therapie bin ich meinen eigenen Weg gegangen. Ich habe viel ausprobiert – manches hat funktioniert, manches nicht. Oft fehlte mir der ganzheitliche Ansatz.
Heute verbinde ich Reiki und das Huna-Wissen mit klassischen Coaching-Methoden und habe daraus die HSZ Transformation entwickelt – eine nachhaltige Methode für COAs. Ich weiß: Du hast so viel Stärke in dir, und du darfst auch deine verletzliche Seite zeigen. Du darfst loslassen. Du darfst frei sein. Du darfst deinen eigenen Weg gehen.
Wir brauchen eine neue Sprache für das, was wir als Kinder in suchtbelasteten Familien durchlebt haben. Begriffe und Sprache formen unsere Identität. Deshalb ist es an der Zeit, neue Worte für das zu finden, was wir wirklich sind: Überlebende, Freiheitsliebende, selbstbestimmte Menschen auf dem Weg in ein erfülltes Leben.
sei MUTIG. sei FREI. sei DU
Deine Christina
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