Hinter verschlossenen Türen: Sprich Nicht! Bewahre das Familiengeheimnis! Tabuthema Alkohol in der Familie und seine Auswirkungen auf COAs

Hey, DU!

„Sprich nicht darüber, was zuhause passiert!“

Ein Satz, der sich in unsere Seelen eingebrannt hat, ein unausgesprochenes Gesetz, das in vielen suchtbelasteten Familien herrscht. Für uns COAs (Children of Addicts) wird dieses Schweigen zu einem stillen Begleiter, der uns ein Leben lang begleitet. Wir tragen ihn mit uns, wie einen unsichtbaren Mantel, der uns schützt, aber auch erdrückt. Es geht nicht nur darum, das Chaos und die Scham innerhalb der Familie zu verbergen – es ist viel mehr als das. Es ist ein verzweifelter Versuch, nach außen hin die heile Welt aufrechtzuerhalten, die es nicht wirklich gab. Ein Versuch, die Fassade zu wahren, um bloß nicht aufzufallen, um bloß nicht schwach (oder gar verletzlich und krank) zu wirken.

Doch dieses Schweigen ist kein Schutz. Es schneidet uns von der Welt ab, von Hilfe, von Verständnis und Mitgefühl. Und irgendwann wird es so tief in uns verankert, dass wir selbst als Erwachsene nicht wissen, wie wir unsere eigene Wahrheit leben sollen. Was passiert, wenn du so lange schweigst, dass du den eigenen Schmerz oder Hilfsbedürftigkeit nicht mehr erkennst? Und wie fühlt es sich an, wenn man, sobald man das Schweigen bricht, als „Verräter“ gesehen wird – nicht von Fremden, sondern von denen, die man liebt, von denen, die einem am nächsten stehen?

Das große Schweigen: Der unsichtbare Pakt in suchtbelasteten Familien

In suchtbelasteten Familien gibt es unausgesprochene Regeln. Eine der wichtigsten lautet: Sprich nicht darüber, was zuhause passiert. Es ist, als ob jedes Familienmitglied stillschweigend diesen Pakt schließt – mit der klaren Botschaft: Bewahre das Geheimnis, halte die Fassade aufrecht.

Als Kind habe ich das deutlich gespürt. Es ging nicht nur darum, die Sucht zu verstecken, sondern auch darum, das Bild der intakten Familie nach außen hin zu wahren. Alles musste normal wirken, koste es, was es wolle. Doch das Schweigen war nicht nur ein Schutz für die Familie, sondern hinterließ tiefe Risse in meiner Seele.

Für viele COAs ist dieses Schweigen eine erdrückende Last, die nicht nur den Zugang zu Hilfe blockiert, sondern auch das eigene Selbstwertgefühl untergräbt. Denn Hilfe zu suchen, bedeutet, das Familiengeheimnis preiszugeben – und das kann unheimliche Angst auslösen, vor allem vor den Konsequenzen, die das Schweigen brechen könnte.

Das große Donnerwetter und die Lektion des Schweigens

Ich erinnere mich noch gut an die Wochenenden bei meinen Großeltern. Meine Oma stand oft an der Küchenhexe, und im Herbst gab es immer Hagebuttentee. Wenn ich die Augen schließe, kann ich den Duft fast noch riechen. Sie saß am Spinnrad, die Brille auf der Nasenspitze, oder arbeitete an ihrer alten Tretnähmaschine, auf der ich gelernt habe, Puppenkleidung zu nähen. Später durfte ich ihr sogar die Haare eindrehen. Diese Besuche waren für mich eine Oase der Ruhe, ein friedlicher Rückzugsort, weit weg von den Spannungen, den Streitereien und dem allgegenwärtigen Alkohol zuhause.

Doch dann gab es diesen einen Tag, an dem ich, ohne es zu wissen, das unausgesprochene Gesetz brach. Ich habe etwas erzählt. Es war keine große Offenbarung, nur eine beiläufige Bemerkung darüber, wie es zuhause gerade zuging. Meine Großeltern, besorgt wie sie waren, sprachen es bei meinen Eltern an. Sie wollten helfen, verstehen, was los war.

Was folgte, war das große Donnerwetter. Meine Eltern waren außer sich vor Wut. Ich hatte die Familie „verraten“. An diesem Tag lernte ich eine bittere Wahrheit: Selbst innerhalb der Familie gab es keinen Raum für Gespräche über unsere Probleme oder die Sucht. Der Schein musste um jeden Preis gewahrt werden. Die Familie als Einheit zählte mehr als die Gefühle oder das Leid der Einzelnen.

Das war der Moment, in dem ich das Schweigen lernte – es tief in mir verankerte. Es wurde mir klar, dass ich mit niemandem darüber sprechen durfte, was zuhause wirklich passierte. So begann ein langer, einsamer Weg des Verdrängens, des Nicht-Fühlens, des Nicht-Vertrauens.

Verrat: Der schmerzvolle Preis des Schweigens

Ich habe den Kontakt abgebrochen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte – die Sucht, die Lügen, die endlosen Enttäuschungen. Mit 18 schrieb mir mein Vater, dass ich ihn nie verstanden hätte – dabei sollten die Rollen doch andersherum sein. Es fühlte sich wie eine verdrehte Welt an. Später, als ich selbst Mutter wurde und heiratete, geschah all das ohne meinen Vater und ohne die Seite seiner Familie. Meine Oma, meine Onkel – ein ganzer Teil meiner Identität war plötzlich abgeschnitten. Es war, als würde ich nicht mehr dazugehören, und das war schwer auszuhalten.

Jahre später haderte ich oft mit mir. Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Gleichzeitig dachte ich aber auch: Sie hätten doch den Kontakt zu mir suchen können. Ich hielt sie immer auf dem Laufenden, schickte Fotos zur Geburt meiner Kinder. Trotzdem blieb ich die Ausgestoßene. Als mein Vater dieses Jahr beerdigt wurde, erlebte ich es erneut: In der Trauerrede wurde ich als Tochter nicht einmal erwähnt. Es war, als hätte es mich nie gegeben. Der Verstoß war endgültig – bis zum letzten Weg.

Das Schweigen zu brechen, brachte mir das Gefühl des Verrats. Als ich mich entschied, mich selbst und meine eigene Familie zu schützen, wurde ich zur „Verräterin“. Noch 20 Jahre später wurde mir die Schuld zugeschoben: „Christina, du warst ja schuld.“ Diese Worte trafen mich tief, denn sie zielten genau auf das, womit ich ohnehin kämpfte: Das Gefühl, unloyal zu sein. Aber was, wenn die Loyalität zur eigenen Gesundheit und zu meiner Familie wichtiger war? Was, wenn das Schweigen nicht mehr der richtige Weg war?

Das Tabu in der Gesellschaft

Das Schweigen um Sucht ist tief in unserer Gesellschaft verankert und reicht weit in die Geschichte zurück. Früher, wenn jemand krank wurde oder „nicht mehr von Nutzen“ für die Gemeinschaft war, wurde er häufig ausgeschlossen und sich selbst überlassen, um allein zu sterben. Die Starken blieben, die Schwachen wurden verstoßen. Dieses archaische Muster zeigt sich noch heute: Wer nicht „funktioniert“ oder „alles im Griff“ hat, sei es durch Suchterkrankungen, psychische Krankheiten wie Depressionen oder Burnout, wird stigmatisiert.

Obwohl wir in einer modernen Welt mit vielen Hilfsangeboten leben, halten sich Vorurteile hartnäckig. Menschen mit Suchtproblemen werden oft als schwach angesehen, manchmal gar als „selbst schuld“. Essstörungen, Alkoholsucht oder andere Suchterkrankungen sind mit Scham behaftet, und sowohl die Betroffenen als auch ihre Familien landen schnell in einer gesellschaftlichen Schublade: Die „sozial Schwachen“, die „Versager“, die „liegen uns auf der Tasche“. Es gibt viele solcher Etiketten, die das Thema Sucht noch schwieriger machen.

Dieses Denken trägt wesentlich dazu bei, dass Sucht weiterhin ein Tabuthema bleibt. Familien, die davon betroffen sind, bemühen sich verzweifelt, den Schein aufrechtzuerhalten – aus Angst, ausgegrenzt oder abgestempelt zu werden. Sie schweigen, nicht nur aus Scham, sondern auch, um nicht noch mehr gesellschaftliche Last zu tragen. So wird die Sucht nicht nur zu einem persönlichen Problem, sondern zu einem Thema, das die gesamte Familie isoliert.

Das Schweigen der Außenstehenden: „Da mischt man sich nicht ein!“

Auch Außenstehende tragen zu diesem Schweigen bei. Es herrscht oft das Gefühl, dass es unangemessen sei, sich einzumischen. Als Kind habe ich das selbst erlebt – Lehrer, Nachbarn, Freunde meiner Eltern. Sie ahnten oder sahen, dass etwas nicht stimmte, doch niemand fragte nach. Vielleicht dachten sie, dass Familienangelegenheiten privat seien. Vielleicht wussten sie nicht, wie sie reagieren sollten oder hatten Angst, sich „in fremde Angelegenheiten einzumischen“.

Dieses kollektive Wegsehen und Schweigen macht es für die Betroffenen noch schwerer, Hilfe zu bekommen. Es fehlen die mutigen Fragen: „Wie geht es dir wirklich?“ oder „Braucht ihr Unterstützung?“ Stattdessen bleibt die stille Angst, sich unangemessen zu verhalten. Dieses Schweigen von außen verstärkt das Schweigen innerhalb der Familie. Es entsteht ein Teufelskreis: Die Sucht wütet weiter, hinter verschlossenen Türen, ohne dass jemand den Mut hat, das Tabu zu durchbrechen und nach Hilfe zu fragen.

Am Ende bleiben die Betroffenen allein – gefangen in einer Kultur des Schweigens, die sowohl von innen als auch von außen aufrechterhalten wird.

Das Schweigen brechen: Ein Weg zur Heilung

Für viele COAs ist das Brechen des Schweigens ein tiefgreifender Wendepunkt im Leben. Es bedeutet, sich selbst Raum zu geben und die eigenen Bedürfnisse endlich wahrzunehmen. Doch diesen Schritt zu gehen, erfordert Mut. Oft haben wir Angst davor, wie andere uns sehen könnten, besonders wenn es darum geht, aus der „negativen Schublade“ herauszutreten, in die wir uns selbst oder andere uns gesteckt haben. Dieses „Outing“ kann beängstigend sein, weil wir befürchten, verurteilt zu werden. Doch Schweigen hilft nicht – es isoliert.

Wenn wir anfangen, über unsere Geschichte zu sprechen, uns Freunden anvertrauen oder auch nur den ersten Schritt tun, unsere Ängste zu überwinden, sagen wir uns selbst: „Ich bin wichtig. Meine Geschichte zählt.“ Dies ist ein entscheidender Schritt zur Heilung. Leider spielt auch heute noch eine große Rolle, aus welcher Familie wir kommen – und das kann im beruflichen Umfeld besondere Ängste auslösen. Gerade COAs im helfenden oder sozialen Bereich befürchten oft, dass ihre persönliche Geschichte als Schwäche wahrgenommen wird, dass ihnen vielleicht gesagt wird: „Du bist nicht belastbar“ oder „Du arbeitest nur deine eigenen Themen auf“. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die eigene Geschichte kann zu einer Stärke werden, wenn wir den Mut finden, offen damit umzugehen.

Schweigen schützt nicht – es isoliert

Für viele COAs beginnt das Schweigen oft als Schutzstrategie, ein notwendiger Mechanismus, um in einer chaotischen und belastenden Kindheit zu überleben. Das Schweigen wird zu einer Mauer, die sie vor den schmerzhaften Wahrheiten in ihrer Familie schützen soll. Doch was einst ein Schutzschild war, wird im Laufe des Lebens zu einer schweren Bürde. Es ist, als ob das Schweigen eine unsichtbare Last auf die Schultern legt, die uns von unserer Umwelt, von echter Unterstützung und – am wichtigsten – von uns selbst trennt.

Dieses Schweigen hindert uns daran, die Verbindung zu uns selbst zu spüren. Es nimmt uns den Zugang zu unseren eigenen Bedürfnissen, zu unserer eigenen Stimme und zu unserem wahren Selbst. Indem wir schweigen, halten wir an alten, destruktiven Mustern fest und verhindern, dass wir Heilung finden. Das Schweigen lässt uns glauben, dass wir alleine mit unserem Schmerz sind, dass niemand verstehen könnte, was wir durchmachen. Doch das ist eine Illusion.

Wenn wir den Mut finden, das Schweigen zu brechen, öffnen wir uns nicht nur für die Welt da draußen, sondern vor allem für uns selbst. Mensch.(S)sucht.Bindung bedeutet genau das: die Bindung zu uns selbst wiederherzustellen. Denn diese innere Bindung ist der Schlüssel, um aus dem Kreislauf der Isolation und der Abkopplung von unseren eigenen Gefühlen auszubrechen. Indem wir die Wahrheit über unsere Vergangenheit und unsere Erfahrungen aussprechen, brechen wir die Ketten, die uns an das Schweigen binden, und finden den Weg zu innerer Freiheit.

Schweigen hält uns in einer Art emotionalem Gefängnis gefangen. Es ist wie ein unsichtbarer Käfig, der uns davon abhält, uns selbst zu sehen, wie wir wirklich sind – mit all unseren Stärken, Schwächen, Bedürfnissen und Gefühlen. Wir haben Angst, dass die Wahrheit zu schmerzhaft ist, dass sie uns oder andere zerstören könnte. Doch in Wirklichkeit ist es das Schweigen, das uns schadet. Es nimmt uns die Möglichkeit, uns selbst zu heilen und eine echte Verbindung zu den Menschen aufzubauen, die uns unterstützen könnten.

Das Schweigen zu brechen bedeutet Befreiung – nicht nur von den Erwartungen und dem Druck, die Familie oder andere schützen zu müssen, sondern vor allem von der Last, uns selbst nicht wahrhaftig leben zu dürfen. Es bedeutet, den Mut zu haben, sich selbst als wichtig und wertvoll genug zu betrachten, um die eigene Geschichte zu erzählen. Es bedeutet, dass wir uns erlauben, Hilfe anzunehmen und den Raum für Heilung zu schaffen.

Schweigen zu brechen ist kein Verrat – es ist ein Akt der Selbstliebe und der Stärkung der Bindung zu uns selbst. Es ermöglicht uns, alte Wunden zu heilen, authentisch zu leben und die Verbindung zu dem Menschen zu finden, der wir wirklich sind. Nur durch das Brechen des Schweigens können wir die Freiheit erfahren, die uns zusteht – die Freiheit, wir selbst zu sein.

Du musst diesen Weg nicht alleine gehen. Jeder Schritt, den du machst, um das Schweigen zu brechen, ist ein Schritt in Richtung Heilung und Selbstentdeckung. Gemeinsam können wir eine Gemeinschaft schaffen, die Verständnis und Unterstützung bietet – für dich und alle, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Wenn du dich in diesen Zeilen wiedererkennst, bist du nicht allein. In der MutCircle Community – Gemeinsam stark für COAs findest du Raum für Austausch und Unterstützung. Ab dem 21.10.2024 startet unser 10-Tage-SelbstwertBOOSTER. Mach mit und lass uns gemeinsam das Schweigen brechen!

sei MUTIG. sei FREI. sei DU

Deine Christina

Komm in unsere MutCircle Community – Gemeinsam stark für COAs auf Facebook, wo wir uns gegenseitig unterstützen, alte Muster brechen und gemeinsam wachsen. Ab dem 21.10.2024 startet hier unser 10-Tage-SelbstwertBOOSTER.

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